Samstag, 28. Oktober 2017

"Hör einfach auf dein Bauchgefühl!?" Die Rolle von Intuition im Umgang mit Kindern.

Die Sache mit dem Bauchgefühl – Erziehung und Intuition

Neulich nahm ich an einem Seminar zu Entwicklungspsychologie teil und der Dozent meinte, er würde allen Eltern von Erziehungsratgebern abraten. Das würde nur unnötig verwirren - am besten sollte man einfach auf seine Intuition hören. Hört sich vielleicht cool an, ist aber meines Erachtens alles andere als klug!
Sicherlich gibt es Situationen, in denen unser Bauchgefühl eine große Rolle spielt. Zum Beispiel, wenn man sich gegen eine Kita entscheidet, die einen tollen Ruf hat, weil man einfach kein gutes Gefühl dabei hat. Oder, wenn man früher nach Hause fährt, weil man das Gefühl hat, dass zuhause etwas nicht stimmt. Die Erfahrung zeigt, dass es sinnvoll ist, diesen elterlichen „siebten Sinn“ ernst zu nehmen.
Es gibt außerdem ein sogenanntes „intuitives Elternprogramm“ - bestimmte Verhaltensweisen, die wir in der Regel automatisch an den Tag legen, weil wir spüren, dass sie unserem Kind gut tun. So entspricht der Abstand, den die meisten Eltern intuitiv zum Gesicht ihres Säuglings einnehmen, wenn sie ihn ansehen – ca. 40-50 cm – genau der Entfernung, in der die Kleinen gut sehen können. Auch die hohe Stimme und das langsame Sprechtempo, mit dem Erwachsene mit Babys reden, ist genau auf die Kommunikationsbedürfnisse von Säuglingen angepasst.

Das bedeutet jedoch nicht, dass unser Bauchgefühl in allen Erziehungsfragen ausreichend ist. Für die meisten Entscheidungen sind Informationen (zum Beispiel über kindliche Entwicklung) und Selbststreflexion (über eigene Prägungen und „automatische“ Verhaltensweisen, zu denen man neigt) eine wichtige Ergänzung zur Intuition.
Ein Beispiel: Paul, drei Jahre alt, wird seit einer Woche im Kindergarten eingewöhnt. Heute Morgen ist aber die Erzieherin Anke, die sich bisher immer um ihn gekümmert hat, krank und eine noch fast unbekannte Erzieherin stellt sich Paul vor. Der fängt an zu weinen und jammert: „Ich will nach Hause, Mama!“ Nun bleibt Steffi, Pauls Mama, nicht viel Zeit, um gründlich„Pro“ und Contra“ abzuwägen. Hilfreich sind aber ein paar Informationen über kindliches Beziehungsverhalten – dass gerade kleine Kinder Zeit brauchen, um Vertrauen aufzubauen und, dass es wichtig ist, ihnen diese Zeit auch zu geben. Wenn Steffi von ihren Eltern sehr „hart“ erzogen wurde und keine Rücksicht auf ihre Bedürfnisse genommen wurde, ist Steffi das möglicherweise nicht intuitiv klar. Sie hat gelernt: „Was uns nicht umbringt, macht uns nur noch härter!“ oder denkt sogar: „Paul will mich doch nur erpressen - das ist ein Machtspiel, auf das ich mich nicht einlassen darf!“ Ihr Bauchgefühl sagt ihr also womöglich: „Lass' ihn damit nicht durchkommen!“ Wenn Steffi aber in einem Elternkurs oder Erziehungsbuch ein paar Fakten über kindliche Bedürfnisse erfahren hat, kann sie Pauls Tränen viel besser verstehen. Trotzdem braucht sie in dieser Situation auch viel Intuition – kann sie ihrem Paul den „Sprung in's kalte Wasser“ nach ein paar ermutigenden Worten zumuten oder ist es besser, zu warten, bis Anke wieder da ist?

Ein anderes Beispiel ist die Frage, wie oft man ein Baby füttert. Einige Babys weinen bei Hunger erkennbar anders als bei Müdigkeit oder Langeweile. Andere Babys senden aber nicht so eindeutige Signale. Die meisten Eltern hören dann meist keine intuitive innere Stimme, die ihnen sagt: "Das Baby sollte schon wieder essen!" oder "Nein, es ist nur müde!"  Dann ist es hilfreich, sich ein paar professionelle Informationen einzuholen, zum Beispiel von der Hebamme, aber auch durch Bücher wie "Das Stillbuch" von Hannah Lothrop oder durch seriöse Artikel im Internet. Dann wird man unterschiedliche Sichtweisen und vielerlei Informationen bekommen, und das Bauchgefühl kann dann helfen, zu entscheiden, welche davon zur eigenen Situation gerade am besten passen.

Das Problem mit dem Bauchgefühl ist, dass es oft von kulturellen oder familiären Prägungen überdeckt ist. Die Art, wie wir aufgewachsen sind, beeinflusst stark, wie wir intuitiv mit unseren Kinder umgehen.
Hinzu kommt, dass unser Bauchgefühl oft von eigenen Stimmungen und Gefühlen bestimmt wird. Im letzten Sommer fuhren mein Mann und ich mit unseren Kindern an den Strand. Während wir die Sachen aus dem Auto packten, wartete unser sechsjähriger Sohn mit unserer zweijährigen Tochter neben uns. Sie liefen ein paar Schritte – und plötzlich stand unsere Tochter in einem Graben, ihre Kleidung vollkommen matschig und nass! Offensichtlich hatte unser Sohn sie in den Graben gesetzt. Wir wurden sehr wütend und schimpften ziemlich laut und böse mit ihm. Unser Bauchgefühl sagte uns ganz klar: „Der Junge hat etwas richtig Dummes gemacht! Wegen ihm muss jetzt einer von uns zur Ferienwohnung fahren und neue Klamotten holen! Er muss spüren, wie falsch das war!“ Unser Sohn war so erschrocken, dass er uns erst etwas später erklären konnte, was passiert war: Seine Schwester hatte auf dem Campingplatz hinter dem Graben einen Hund gesehen, den sie gern streicheln wolle. Deshalb hatte er versucht, sie über den Graben zu tragen. Leider war sie zu schwer für ihn, sodass er es nicht geschafft hatte … als wir das hörten, tat es uns ziemlich leid, dass wir einfach auf unser Bauchgefühl gehört hatten, statt zunächst die Fakten zu sammeln.

Unser Bauchgefühl ist also alles andere als neutral und zuverlässig. Deshalb haben Erziehungsratgeber, Elternkurse, Beratungsstellen und die Tipps von Freundinnen durchaus ihre Berechtigung. Das bedeutet nicht, dass wir alle Tipps 1:1 übernehmen sollten. Sie sind aber wertvoll als Impulse, die uns helfen, uns gut zu informieren, gründlich abzuwägen und unser Verhalten zu reflektieren. Nur wenn wir die wichtigsten Informationen haben, können wir wirklich vernünftig entscheiden, was sich gerade richtig anfühlt. Wenn wir dann alle Fakten bedacht haben, unsere eigenen Einstellungen und Vorurteile hinterfragt haben und immer noch nicht klar sehen, was richtig ist oder ganz verwirrt sind, weil wir zu viele unterschiedliche Tipps bekommen haben– dann ist die Intuition oft eine gute Hilfe: Nun habe ich die wichtigsten Infos und Ideen gesammelt – was von all dem fühlt sich jetzt gerade passend und richtig an?


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