Mittwoch, 20. September 2017

Tayo, der Wolf, wird gebraucht . Eine therapeutische Geschichte zum Thema "Selbstwert".

Tayo, der Wolf, wird gebraucht
Es war einmal ein Wolf namens Tayo. Er hatte fünf Geschwister: Drei Brüder namens Isegrimm, Ayko und Wolfram und zwei Schwestern namens Luna und Waya. Die meisten seiner Geschwister konnten irgendetwas besonders gut: Isegrimm war ein starker Kämpfer, Ayko und Wolfram waren sehr schnell und Luna hatte die schönste Stimme des ganzen Wolfsrudels. Waya war noch zu jung, um irgendetwas besonders gut zu können, aber alle fanden sie niedlich und entzückend.
Nur Tayo bekam fast nie Lob. Im Gegenteil, er wurde oft ausgelacht: Wenn jemand in einen Matschhaufen trat, dann Tayo. Und beim Raufen mit den anderen Wölfen gewann Tayo nur selten. Er konnte irgendwie nichts so richtig gut: Er war nicht besonders schnell, nicht besonders stark und er konnte überhaupt nicht gut heulen. Seine Geschwister heulten immer laut und kräftig mit, wenn der Mond schien, aber seine Stimme klang krächzend und nicht besonders schön. Deshalb heulte Tayo niemals. Er schämte sich zu sehr. Er wünschte sich so, dass sein Wolfsvater Lupo auch einmal zu ihm sagen würde: „Ich bin stolz auf dich.“ Doch das sagte er immer nur zu seinen Geschwistern. Seine Mutter hatte auch wenig Zeit für ihn, weil die kleine Waya noch so jung war und viel Pflege brauchte. Deshalb fühlte sich Tayo oft allein. Manchmal kam es ihm so vor, als wäre er niemandem wichtig.
Eines Tages traf er eine traurige Entscheidung: Er würde den Wald verlassen. Er war sich sicher, dass er hier nicht gebraucht wurde. So schlich er sich, mitten in der Nacht, bei Mondschein, heimlich fort. Als er noch einen letzten Blick auf seine schlafende Mutter warf, rollte eine Träne seine Schnauze herunter.
Er war schon einige hundert Meter gelaufen, da hörte er auf einmal seinen Namen. Erstaunt blickte er sich um. Oben auf dem Ast saß die kluge Eule Juri: „Wohin möchtest du, mein Freund?“, fragte Juri. Tayo zuckte unsicher mit den Schultern: „Einfach weg. Mich will hier eh keiner haben.“ Erstaunt blicke Juri ihn an: „Wie kommst du denn darauf?“ Tayo sah zu Boden: „Ich bin keinem wichtig. Meine Eltern haben keine Zeit für mich und sie finden meine Geschwister viel toller. Ich habe hier keinen Platz.“
Juri flatterte vom Baum herab und setzte sich neben Tayo. Überrascht stellte Tayo fest, dass Tränen in Juris Augen standen. „Warum weinst du?“, wollte er wissen. Da kullerten die Tränen nur so Juris Federkleid herunter und die Eule schniefte: „Weil du hier fehlen wirst. Weil es einen Platz für dich gibt, der dann leer wäre. Weil es wichtige Aufgaben gibt, die auf dich warten.“ Tayo legte den Kopf schief: „Wie meinst du denn das?“ Die Eule wischte sich mit dem Flügel eine Träne vom Auge: „Lieber Tayo, jedes Lebewesen hat einen Platz auf der Erde. Auf der ganzen weiten Welt gibt es niemanden wie dich. So viele Lebewesen gibt es auf der Welt – aber deine Augen gibt es nur dieses eine Mal! Jeder Wolf, jede Eule, jeder Menschen ist einmalig und wertvoll, so, wie er ist!“ „Aber ich kann doch gar nichts Besonderes!“, protestierte Tayo. „Vielleicht siehst du es noch nicht“, antwortete die Eule, „Aber in jedem Einzelnen steckt etwas. Jeder hat eine Stärke und für jeden gibt es eine Aufgabe in diese Welt. In dir schlummern Fähigkeiten, mit denen du andere unterstützen kannst. Und andere wiederum können dir helfen. So können wir alle zusammen diese Welt zum Guten zu verändern.“
Dass ich wertvoll bin, höre ich zum ersten Mal.“, murmelte Tayo leise und begann, zu weinen. Die Eule legte einen Flügel um Tayo und drückte ihn fest an sich: „Komm mal mit.“ Sie lief mit ihm zum kleinen Bach und auf einmal sah Tayo auf der Wasseroberfläche ein Bild von einem alten Wolf, der ihn freundlich ansah. Es war, als würde das Bild lebendig und der Wolf sprach: „Ich bin deine Urgroßmutter Annabel. Du kennst mich nicht, aber ich bin so stolz auf dich. Gib' nicht auf!“ Tayo schnappte erstaunt nach Luft, doch da erschien schon ein zweites Bild auf dem Wasser: Ein Wesen, das Tayo noch nie gesehen hatte – und doch fühlte es sich an, als wäre es Tayo schon immer unsichtbar nahe gewesen. Es sah mächtig und stark aus und gleichzeitig waren seine Augen voller Liebe. „Ist das etwa der Große Geist?“, fragte Tayo aufgeregt. Juri nickte: „Die Indianer nennen ihn den Großen Geist. Andere reden von Gott, wieder andere von einer guten Macht oder der Liebe. Doch wie auch immer du ihn nennst … dass du geboren wurdest, war seine Idee. Und auch für ihn bist du unbezahlbar wertvoll.“
Du wirst geliebt!“, bekräftigte Juri, „ Es ist schlimm, wenn die Eltern einem diese Liebe nicht zeigen können. Du darfst darüber weinen – weinen tut oft gut. Doch das Versagen deiner Eltern ändert nichts daran, wie wertvoll du bist. Manchmal spüren wir lange Zeit keine Liebe – und doch ist sie da. Wie die Sonne, die sich an Regentagen hinter Wolken versteckt. Immer, wenn ein anderer freundlich zu dir ist, kommt etwas von der Liebe bei dir an!“
Das fällt mir schwer zu glauben.“, gab Tayo zu. Juri nickt: „Du kannst dich entscheiden, es einfach mal zu versuchen. Tu so, als würdest du es glauben! Du musst dich nicht mehr mit anderen vergleichen. Du musst dich nicht mehr ärgern, wenn etwas ungerecht läuft. Denn dass du etwas Besonders bist, steht sowieso schon fest. Versuche, das Gute in anderen zu sehen. Gehe mit offenen Augen durch die Welt und schaue, wo du Gutes tun kannst. Dann wirst auch du Liebe und Freundlichkeit erleben.“
Tayo beschloss, Juri wirklich einmal zu glauben. Zumindest für zwei Wochen wollte er es ausprobieren. Und so ging er zurück zu seiner Familie und immer, wenn er etwas ungerecht fand, ging er zum Bach, sah seine Augen an und sagte sich: „Ich bin wertvoll.“ Und es veränderte sich etwas: Je mehr er das glaubte, desto weniger musste er darum kämpfen, Erster zu sein oder Aufmerksamkeit zu bekommen.
Eines Tages kam ein streunender Hund namens Tassilo zum Wolfsrudel. Die Menschen hatten ihn schlecht behandelt und deshalb wollte er nun im Wald leben. Die Wölfe schickten ihn zwar nicht weg, aber sie waren nicht besonders nett zu ihm. „Das ist doch nur ein Hund!“, sagten sie oft, „Der kann nicht mal heulen.“ Doch Tayo dachte an die Worte der Eule, die gesagt hatte, dass jedes Lebewesen wertvoll war …
An einem Abend war lautes Hund-Gebell zu hören. Die anderen Wölfe meinten: „Ach, der Hund. Der will bestimmt eh nichts Wichtiges.“ Tayo aber erinnerte sich wieder an Juris Worte und beschloss, dem Bellen zu folgen, um zu sehen, ob Tassilo Hilfe brauchte. Als er den Hund erreichte, wirkte dieser sehr aufgebracht: „Wir müssen die anderen Wölfe warnen! Ich habe Jäger beobachtet, die das Wolfsrudel überfallen wollen, weil sie ihr Fell für teure Pelze benutzen wollen! Sie wissen, wo die Wölfe schlafen und sind schon auf dem Weg – mit vielen großen Gewehren! “ Oh nein! Tayos Herz raste. Was sollte er nur tun? Wenn er erst den langen Weg zurück rennen wollte, käme er womöglich zu spät. Ihm blieb nichts anderes übrig als das zu tun, das er sonst nie tat … laut zu heulen! Er schämte sich noch immer für deine krächzende Stimme, aber ihm war klar: Nur so konnte er die anderen Wölfe retten! Also nahm Tayo all seinen Mut zusammen und heulte – krächzend, aber laut und kräftig und so lange er konnte.
Als er endlich Ayko und Wolfram herbeirennen sah und hinter ihnen die anderen, atmete er erleichtert auf. Auch Tassilo freute sich: „Du hast sie gerettet!“ Rasch erzählte Tayo den anderen, warum er sie gerufen hatte. Das ganze Rudel danke Tayo: „Danke, dass du uns gerettet hast, obwohl wir nicht immer nett zu dir waren!“ Isegrimm stupste Tayo freundlich an: „Weißt du, als du mit dem Heulen anfingst, war es recht laut im Wald, weil gerade auch andere Wolfsrudel heulten und einige Waldkauze durch die Gegend riefen. Aber weil deine Stimme so anders klingt, war uns direkt klar: Das ist Tayo und es muss etwas Wichtiges sein! Sonst würdest du nicht so laut heulen! Und so machten wir uns alle auf den Weg – und konnten gut hören, aus welcher Richtung das krächzende Heulen kam.“ Er grinste: „Siehst du, da war deine Schwäche – die krächzende Stimme – eine richtige Stärke!“ Tayo nickte. Von diesem Tag an heulte er jede Nacht mit den anderen Wölfen. Er schämte sich nicht mehr dafür, dass seine Stimme anders war – nein, er war stolz darauf, denn gerade diese Schwäche hatte die Wölfe gerettet! Und als er Juri wiedersah, rief er fröhlich: „Du hattest Recht!“ Die Eule lächelte wissend. Mehr brauchte er nicht zu erklären.

Samstag, 9. September 2017

Liebevoll Grenzen setzen - oder: Muss Strafe sein?

Wenn ich mit anderen Eltern spreche, merke ich immer wieder: Dieses Thema beschäftigt fast alle. Und kein Wunder, denn es betrifft so stark unseren Alltag, so viele Bereiche und Kinder in nahezu allen Altersgruppen! Deshalb habe ich in diesem Artikel wichtige Gedanken, von denen einige bereits in kürzeren Blogs beschrieben wurden, zusammengefasst und um hilfreiche Tipps und Strategien ergänzt.

„Kinder brauchen Grenzen“ titelt ein berühmter Erziehungsratgeber und dieser Haltung würden wohl die meisten Eltern grundsätzlich zustimmen. Doch wie genau können wir als Eltern liebevoll und doch wirksam Grenzen setzen?
Der Volksmund behauptet „Strafe muss sein“  -  Studien haben jedoch erwiesen, dass Strafen meistens nicht dazu führen, dass Kinder sich dauerhaft besser benehmen. Und, dass Kinder, die zuhause oft bestraft werden, sich zwar häufig zuhause besser anpassen, dafür aber außerhalb von zuhause besonders viele Regeln brechen.
Der Psychologe Alfie Kohn nennt in seinem Buch "Liebe und Eigenständigkeit" weitere Nachteile von Strafen, z.B.:

- Bestrafte Kinder fühlen sich gedemütigt, was Wut und Rachegefühle auslöst. Auch die Beziehung zu den Eltern, die mal liebevoll und freundlich sind und dann absichtlich Leid zufügen, wird belastet.

- Je älter unsere Kinder werden, desto mehr Freiräume haben sie, sich unseren Strafen zu entziehen, d.h, Strafen verlieren mit der Zeit ihre Macht. Wenn der Einfluss der Eltern dann nur auf Strafen beruht, haben sie ein Problem. Eine wichtige Frage, die Eltern sich stellen sollten:  Möchte ich, dass meine Kinder mit einem Verhalten aufhören, weil sie Angst vor der Strafe haben? Oder möchte ich, dass ihnen meine Meinung wichtig ist und es sie wirklich interessiert, warum ich etwas falsch finde – weil sie mich respektieren und ihnen meine Zustimmung etwas bedeutet? Ich kann den Fokus nur in eine Richtung lenken!

- Strafen bewirken in der Regel nicht, dass ein Kind wirklich einsieht, dass sein Verhalten falsch war. Meist führen sie nur zu Wut auf die Eltern und dazu, dass das Kind das bestrafte Verhalten in Zukunft besser verheimlicht. Es hat dann nicht gelernt, dass sein Verhalten falsch war, sondern, dass es sein Verhalten besser vor den Eltern verstecken muss.

- Strafen schwächen das moralische Verhalten von Kindern: Wir meinen oft, wir müssten strafen, damit Kinder sozialer handeln. Doch das Gegenteil ist der Fall: Je mehr wird strafen, desto mehr konzentrieren sich die Kinder auf die Folgen, die ihr Verhalten auf sie selbst hat: Welche Strafe riskiere ich, wenn ich zuschlage?  Sie wägen also zunehmend den eigenen Nutzen bzw. Schaden ab, statt zu verstehen, warum ihr Verhalten falsch ist. Strafen lenken also eher ab.

- Strafen vermitteln die Lektion: Es ist okay, anderen Leid zuzufügen, um sich durchzusetzen. Das ist die Botschaft, die Kinder lernen, wenn sie oft bestraft werden. Denn Eltern sind die wichtigsten Vorbilder für ihre Kinder. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass Eltern niemals körperliche  Strafen wie Ohrfeigen, Schläge, Klapse, etc. einsetzen sollten. Die  Forschung zeigt deutlich, dass Kinder, die körperliche Gewalt  von ihren Eltern erfahren, selbst aggressiv werden und oft psychische  Probleme entwickeln.
Auch Schreien ist übrigens eine Form nicht-körperlicher Aggression, die Kinder stresst und ihnen schadet. Wenn Eltern viel schreien, herrscht ein aggressives Familienklima, das Kinder oft auch durch körperliche Gewalt umsetzen. Ein sehr hilfreiches Buch: „Erziehen ohne auszurasten“ von Sheila McCraith.

Um besser zu verstehen, warum Kinder sich so oft „daneben“ benehmen, hilft ein kurzer Blick auf die Gehirnentwicklung: Die untere Gehirnhälfte ist für  Emotionen und instinktives Verhalten zuständig, während die obere Gehirnhälfte planvolles, moralisches, „vernünftiges“ Verhalten steuert. Während das untere Gehirn bereits bei der Geburt weit entwickelt ist, ist das obere Gehirn erst mit ca. Mitte 20 vollständig ausgeprägt.
Das bedeutet: Vernünftiges und moralisches Handeln und die Kontrolle und Regulierung eigener Gefühle ist für Kinder und Jugendliche deutlich schwieriger als für uns. Die Gehirnhälfte, die dafür zuständig ist, ist einfach noch längst nicht voll funktionstüchtig und die emotionale Gehirnhälfte übernimmt oft die Oberhand.

Dies erklärt zum Beispiel Trotzanfälle, kindlichen Egoismus, „unvernünftiges“ Verhalten im Teenageralter usw. Das bedeutet nicht, dass wir unangemessenes Verhalten einfach hinnehmen. Aber es hilft uns, zu verstehen, warum es Kindern oft so schwer fällt, sich „zu benehmen“.
Daher ist es sinnvoll, Kindern erst einmal auf der emotionalen Ebene zu begegnen: Ruhiges Zureden, eine Umarmung oder ein sanftes Streicheln der Schulter, freundlicher Blickkontakt und einfühlsames Benennen der Gefühle, die gerade spürbar sind: Du bist gerade ziemlich wütend, oder? Du hast dir so viel Mühe gegeben und nun hat es doch nicht geklappt!“ oder „Ich merke, dass du traurig bist.“

Wichtig ist auch, bei Problemverhalten zu überlegen, welches Bedürfnis dahinterstehen könnte. Denn oft zeigen Kinder „schlechtes Benehmen“, wenn sie müde, gestresst oder gelangweilt sind. Oder, wenn die Eltern zu wenig Zeit haben, in der sie sich bewusst nur dem Kind zuwenden. Dabei ist es hilfreich, wenn bei mehreren Kindern auch immer mal jedes Kind einzeln Zeit mit einem Elternteil verbringen kann, um Eifersucht vorzubeugen.
Manchmal sind Konsequenzen unumgänglich – diese sind aber nicht mit Strafen gleichzusetzen. Konsequenzen sind Folgen, die sich automatisch aus einem Fehlverhalten ergeben (natürliche Konsequenzen, z.B. schlechte Noten, wenn das Kind trotz gutem Zureden nicht lernen will) oder zumindest in einem klaren Zusammenhang zum Verhalten stehen. Letztere sind logische Konsequenzen, z.B.:  Wer andere haut, kann nicht mitspielen oder: Wer die Hausaufgaben nicht gemacht hat, kann noch nicht fernsehen – weil diese Regel zuhause grundsätzlich gilt. Konsequenzen werden nicht einfach so aus Wut heraus verteilt, sondern ruhig, eher mitfühlend. Dazu werden mit dem Kind bestimmte Regeln und entsprechende Konsequenzen vorher besprochen und meist ist es auch sinnvoll, eine Verwarnung zu geben.
Wichtig: ist: Wenn zu häufig Konsequenzen genutzt werden, können sie wie Strafen wirken. Eine gute Faustregel, um einzuschätzen, wann Konsequenzen nötig sind: Dann, wenn wichtige Bedürfnisse anderer verletzt werden oder das Kind sich oder andere gefährdet.