Sonntag, 12. Juni 2016

Kindergehirne ticken anders ... eine alternative Strategie zu Strafen

Im letzten Artikel habe ich begründet, weshalb Strafen in der Erziehung mehr schaden als nützen. Die logische Frage, die sich nach dieser Erkenntnis stellt: Was ist die Alternative?
Daniel J. Siegel und Tina P. Bryson stellen in ihrem Werk „Achtsame Kommunikation mit Kindern“ interessante Strategien vor.
Die Theorie: Die beiden AutorInnen berufen sich auf die moderne Gehirnforschung, welche den Einfluss der Gehirnentwicklung auf das Verhalten erforscht. Sie erklären beispielsweise, dass die untere Gehirn für Emotionen, Aggressionen und eher instinktives Verhalten zuständig ist, während die obere Gehirnhälfte planvolles, moralisches, „vernünftiges“ Verhalten steuert.
Während das untere Gehirn bereits bei der Geburt weit entwickelt ist, ist das obere Gehirn erst mit ca. 20 Jahren vollständig ausgeprägt.
Das bedeutet: Planvolles, überlegtes und moralisches Handeln ist für Kinder und Jugendliche deutlich schwieriger als für uns. Die Gehirnhälfte, die dafür zuständig ist, ist einfach noch längst nicht voll funktionstüchtig.
Dies erklärt zum Beispiel Trotzanfälle, kindlichen Egoismus, „unvernünftiges“ Verhalten im Teenageralter usw. Das bedeutet nicht, dass wir unangemessenes Verhalten einfach hinnehmen. Aber es hilft uns, zu verstehen, warum es Kindern oft so schwer fällt, sich „zu benehmen“.

Unsere Aufgabe als Erwachsene ist es daher nicht, unangemessenes Verhalten zu „bestrafen“. Worum genau geht es bei Disziplin?
Die eigentliche Bedeutung des Wortes ist „Lehre“ - wir wollen unsere Kinder also etwas über das Leben, über richtiges und zielführendes Verhalten lehren. Dies passt auch zu Siegels und Brysons Ansatz: Wir wollen unsere Kinder lehren, mehr und mehr das untere mit dem oberen Gehirn zu verbinden und nicht rein instinktiv und gefühlsgesteuert zu handeln.
Dabei müssen wir uns bewusst machen, dass stetige Rückschläge völlig normal sind – einfach, weil das untere Gehirn noch dominanter ist und angemesessenem Verhalten immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht.
Behalten wir stets im Hinterkopf, was unser Ziel ist: Unseren Kindern etwas beibringen und sie darin fördern, ihr oberes Gehirn zu aktivieren. Strafen führen dabei, wie mein letzter Artikel gezeigt hat, selten zum Ziel.

Wie können wir nun das obere Gehirn unserer Kinder in seiner Entwicklung fördern? Zwei Schritte, die die AutorInnen nennen, möchte hier kurz aufführen:

  1. Begegnen und verbinden: Bevor wir unser Kind lehren (z.B. erklären, warum wir sein Verhalten nicht okay finden), verbinden wir uns emotional mit ihm. Nur wenn eine Verbindung steht, ist es aufnahmefähig für unsere Botschaft. Wir appellieren also nicht direkt an das obere Gehirn, sprich, an die Vernunft, z.B. „Reiß dich doch mal zusammen! Überlege dir, welche Folgen das haben wird!“, sondern gehen zuerst auf die emotionale Ebene, weil dort, im unteren Gehirn, gerade der „Sturm tobt“. Das kann z.B. durch eine Umarmung, eine freundliche Berührung und/oder ruhiges, einfühlsames Sprechen erfolgen. Wir können fragen, was genau gerade los ist, um zu signalisieren: „Ich nehme deine Gefühle ernst!“ Manchmal hilft es auch, selbst die Emotionen des Kindes in Worte zu fassen, z.B.: „Du bist gerade ziemlich wütend auf deine Schwester, hm?“ Wenn Kindern in ihrer Wut sich selbst oder andere in Gefahr bringen bzw. verletzen, müssen wir sie natürlich erstmal daran hindern bzw. aus der Situation herausbringen.
  2. Umleiten: Erst, wenn das Kind nicht mehr so aufgewühlt ist, ist es sinnvoll, sich an das obere Gehirn zu wenden – also zu kritisieren, begründen, ermahnen, usw. Das Kind hat sich nun ein wenig beruhigt und fühlt sich durch unser Verständnis angenommen – eine notwendige Basis, um offen für unsere Botschaft zu sein. Dann können wir an seine Vernunft appellieren, erklären, warum sein Verhalten falsch ist oder, warum wir etwas verbieten. Hier sind auch klare Worte gefragt und Ich-Botschaften sowie Kompromissvorschläge hilfreich (z.B.: „Ich bin müde und kann deswegen nicht noch mit dir schwimmen. Weißt du, meine Arbeit war heute sehr anstrengend. Aber wir wäre es mit einer Runde Kartenspiel und dann gehen wir morgen schwimmen?“)
Die AutorInnen nennen noch viele weitere nützliche Strategien, die den Rahmen hier sprengen würden.
Manch einem mag dieses Erziehungsverhalten zu „weich“ vorkommen. Andererseits zeigt mir der Blick auf die Kinder von Eltern, die Strafen einsetzen, dass diese sich in der Regel auch nicht besser „benehmen“.  Das Modell von Siegel und Bryson liefert, wie ich finde, eine nachvollziehbare wissenschaftliche Begründung dafür, warum unsere Kinder trotz unserer Bemühungen so oft „nicht hören“ oder ausflippen – und liefert zusätzlich wertvolle Hinweise, wir wir damit umgehen können und unseren Kindern helfen können, mit Frust und Grenzen immer besser umzugehen.